Max Reger, meine Mutter und ich
In meinen Kindheitsjahren kam ich das erste Mal in Kontakt mit dem Komponisten Max Reger: Meine Mutter, damals und heute Organistin in der Katholische Kirche „Maria Mittlerin“ in Gelterkinden, machte sich Gedanken über ein geeignetes Orgelstück zu Weihnachten. Schliesslich entdeckte sie die Choralphantasie „Wie schön leucht uns der Morgenstern“ op. 40 Nr. 1 von Max Reger. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, wo sich meine Mutter stundenlang mit diesem sehr anspruchsvollen Werk auseinandersetzte, und ich als Kind beim Üben neben meiner Mutter auf der Orgelbank sass. Seit diesen Tagen sitzt mir dieses geniale Orgelstück in den Ohren. Nun spiele ich selbst die hiesige Orgel. Aber ich muss gestehen, dass ich mich bis Heute nicht an die besagte Choralphantasie gewagt habe. Ja eben, in den Ohren habe ich diese Phantasie schon, jedoch (noch) nicht in meinen Fingern und Füssen.
Thomas Brand, Organist der Katholischen Kirche „Maria Mittlerin“ in Gelterkinden
Möge dieses Jubiläum die Musik dieses bayerischen Komponisten in der Schweiz einem neuen Publikum zugänglich machen.
Max Reger, ein für meine französischen Ohren sehr deutscher Name, den ich erst im Alter von 19 Jahren bei einer Dechiffrierungsprüfung entdeckte. Mein damaliger Lehrer, Yves Lafargue, hatte mich für die Abschlussprüfung das Stück Melodie aus Opus 129 (neue Stücke) dechiffrieren lassen.
Ich fand die Melodie sehr schön und die Akkorde interessant, aber für meinen harmonischen Sinn, der an Vierne und Dupré gewöhnt war, war es seltsam. Die gewohnten Gewürze schienen plötzlich anders zu klingen, es war immer noch eine Melodie, eine Begleitung, ein Pedal, aber der lange Atem mit Chromatiken war völlig neu für mich. Später wurde ich von Wolfgang Zerer in Hamburg unterrichtet, und dort konnte ich viele Studenten hören, die andere Werke von Reger spielten und arbeiteten. Ich half einem Kollegen (Thomas Cornelius) im Mariendom beim Stimmen der Zungen, bevor er „wie schön leuchtet uns der Morgenstern“ spielte. Das war eine Offenbarung für mich. Seitdem hatte ich das Glück, mit Martin Sander an diesem Werk zu arbeiten und die Fantasie über denselben Choral von Johanna Senfter, einer der besten Schülerinnen von Max Reger, zu entdecken.
Aurore Mercédès Baal, Organistin
Max Reger – Der Orgeltitan
Kaum ein Orgelkomponist dürfte zeitlebens und darüber hinaus derart polarisiert haben – die Einen lieben und verehren ihn, Andere wiederum lehnen ihn rigoros ab: Max Reger 18873 – 1916). Wenige Komponisten dürften Höhen und Tiefen des Lebens so erlebt und auch gelebt haben wie er. Sein Leben vereint tiefe Depression, Todesnähe und Sehnsucht, aber auch überschwängliche Freude, beißenden Spott, Hohn und Sarkasmus. Die Stationen seines Lebens (Sangerhausen, Wiesbaden, Leipzig, Meiningen, Wiesbaden, Jena), sein rast- und ruheloser Lebensstil mit reichlichem Konsum der Genussmittel Zigarre und Alkohol (welche seine kompositorischen Höchstleistungen in großem Maße beflügelten) und seine erfolgreiche, exzessive Konzerttätigkeit, Musik bis zum absoluten Zusammenbruch von Seele und Körper, dürften jedem Reger-Liebhaber bekannt sein.
Dieses Nebeneinander und Ineinandergreifen von Freude und Schmerz, von tiefer Depression und allerhöchster Freude macht sein gesamtes Werk schwer verstehbar und nur mit einem gewissen Minimum an bereitwilliger Offenheit nachvollziehbar. Genau diese Ambivalenz macht aber für den Autor die große Faszination an der Musik Regers aus, zumal sein Werk nicht nur emotional, sondern auch handwerklich-kompositorisch höchste Anforderungen an Hörer und Interpreten stellt. Wer bereit ist, sich diesem Kosmos zu öffnen, der findet in Reger ungeahnte Welten musikalischen Erlebens. Regers Art, Bekanntes neu zu interpretieren und die Grenzen von Konventionen und Tonalitäten jeglicher Art zu sprengen und neu zu definieren, lässt die Werke mit jeder Aufführung und jedem Hören neu erstehen. Der Autor lernte das Orgelspiel an romantischen Orgeln der Zeit, in der Reger seine monumentalen Werke schrieb. Schon früh versuchte ich mich, wenn auch mit zugegebenermaßen geringem Erfolg, an Werken wie „Wachet auf“ aus Op.52 oder „Ein‘ feste Burg“ Op.27. Nicht nur das Ausmaß, sondern vor allem die Farbigkeit und die tonmalerische Ausdeutung der Choräle, aber auch die schier unerschöpfliche Ideenvielfalt waren Ursprung meiner Begeisterung für Reger. Als angehender Kirchenmusiker laden mich Regers Choralbearbeitungen ein, die Liedtexte vollkommen neu zu entdecken und anders zu interpretieren, lyrisch wie musikalisch. Nicht nur die großen Fantasien, sondern auch die Choralbearbeitungen aus Op.67 offenbaren sich hier als besondere Schätze. Immer wieder werden markante Textstellen mit ebenso markanten, im Gesamtkontext aber eher unbedeutenden Wendungen kenntlich gemacht. Als Beispiel sei hier „Weihnachten“ aus Op.145 genannt – in der Verarbeitung von „Es kommt ein Schiff geladen“ erscheint in d-Moll beim Auftreten des Wortes „des Vaters [ewigs Wort]“ plötzlich ein im harmonischen Fluss eher unbedeutsames D-Dur, welches aber bei genauerem Hinsehen auf eine freundlich-helle, hintergründige Art die Bedeutung des Wortes „Vater“ hervorhebt. Dazu ebbt die wogende Begleitung nie ab, bleibt aber stets in „dunkler Färbung“, sodass der Choral wie ein Schiff auf dunklem Wasser zu schweben scheint. Wie kann man diese Musik nicht faszinierend finden? Welcher Komponist führt einen Choral derart triumphierend in eine Fuge ein wie Reger am Ende von „Wachet auf“, wo mitten aus der Fuge die Worte „Gloria sei dir gesungen“ emporsteigen? Mit solchen Stellen öffnet Reger eine überirdische Welt, welche für mich bis dato vollkommen unbekannt war. Auch die Art, am Ende jener oben angesprochenen Fuge in E-Dur zu bleiben, um im drittletzten Akkord mit einem strahlend-reinen C-Dur den tiefsten Ton der Orgel als Erdung vor dem jubelnden E-Dur erklingen zu lassen, hat eine unbeschreibliche, nur erlebbare Wirkung. Ein anderes Beispiel jener unnachahmlichen Textausdeutung zeigt sich schon im Choralvorspiel „Komm, süßer Tod“ aus Regers Frühwerk. Der Choral wird durch Chromatik in allen Stimmen derart verschleiert, dass er kaum erkennbar bleibt. Den Einen mag dies abstoßen und abschrecken, der Andere sieht darin aber eine durch Reger früh erkannte Tatsache: Wo auch immer wir gehen, der Tod geht undeutlich, unkenntlich auf unserem Lebensweg mit. Er ist nicht zu erkennen, aber er ist (verschleiert) doch stets an unserer Seite.
Einerseits mag Regers ausufernde Harmonik als ein „Zuviel“ interpretiert werden, andererseits ist meiner Meinung nach diese Art der harmonisch-textlichen Gestaltung mit Akkordkaskaden, wildem Auf und Ab die nahbarste und nachvollziehbarste Schilderung der komplexen menschlichen Emotionswelt, gerade bei einem hochemotionalen Menschen wie Max Reger. Emotionen können das gesamte Leben aus den Fugen heben, neue Welten öffnen, Bestehendes zerbrechen oder verwerfen – ebenso geschieht es letztlich in Max Regers Musik – man denke hier nur an das oben schon genannte „Weihnachten“ – wo andere Komponisten am Anfang eines solchen Klangbildes eine verklärte, freundliche Helligkeit bevorzugt hätten, verkehrt Reger dies in eine düstere, harmonisch und rhythmisch schwer fassbare Stimmung und schlägt damit einen Bogen zum Bibelwort „Das Volk, das noch im Finsteren wandelt, sieht ein großes Licht…“ – dieses große Licht erscheint langsam im Choral „Es kommt ein Schiff, geladen“ und gipfelt im hell-verklärten „Vom Himmel hoch“ in Kombination mit „Stille Nacht“, dem ein großer Organo-Pleno-Höhepunkt beim Choral „Ach, was soll ich Sünder machen“ mit anschließendem, bildhaften Zusammenbruch der Sünde vorausgeht. Regers besondere Liebe zu Bach gipfelt in der monumentalen Beschreibung der Buchstaben „B-A-C-H“ am Anfang von Op.46 – niemals sonst in der Musikgeschichte sind höchste Verehrung und tiefste Demut vor dem Schaffen des Urmeisters der Orgelmusik und des Kontrapunktes so auf den Punkt gebracht worden – so wie Reger vor der Größe Bachs zu erstarren schien, so wie er vor dem Monument „Bach“ niederzuknien schien, so tue ich, tun wir es vor dem Anfang von Op.46 mit seinem düsteren, erhabenen es-Moll.
Die Chormusik steht dem in Nichts nach. Das „Requiem aeternam“ aus dem leider unvollendeten Lateinischen Requiem bleibt über dem Orgelpunkt „D“ in einer derart düsteren Stimmung, dass auch das nachfolgende „Kyrie“ mit seinen Rufen nach Erbarmung diese Stimmung nicht lichten kann. Das „Dies Irae“ ist eine Schilderung des Weltgerichtes, wie sie bildlicher nicht sein kann – aufwühlend, nicht fassbar, panisch und im ehrfürchtigen Sinne schrecklich. Lässt sich der Zuhörer auf die emotionale Tiefe der Musik Regers ein, so findet er hier eine Nähe zum Komponisten, wie sie bei kaum einem anderen Meister erlebbar ist. Die ehrfurchtgebietende Größe und die gleichzeitig so menschliche emotionale Nähe, die der Komponist hier schafft, faszinieren mich, seit ich das erste Mal Regers Musik erleben und selbst spielen durfte. Kaum ein anderer Komponist verklärt seine Gefühle so wenig, legt sie so offen und ungeschönt da wie Reger.
Gerade diese Ambivalenz macht Reger zu einem der am Schwersten verstehbaren, aber auch ehrlichsten Komponisten. Sein Werk zu ehren und zu pflegen sollte Anliegen jedes Organisten sein.
Johannes Richter, Organist aus Halle/Saale – Dokumentation von Orgeln und Glocken in Mitteldeutschland
Max Reger – „Über Stock und Stein“
Max Reger’s Musik begegnete mir zum ersten Mal im Kindesalter mit dem Klavierstück „Über Stock und Stein“. Wenige Jahre später hörte ich Reger’s „Toccata und Fuge in d“ op. 59 zum ersten Mal und war fasziniert ob der kühnen, chromatischen Harmonik und der fantastischen Dynamik: mal aufbrausend, dann wieder kaum hörbar und zum Schluss eine Steigerung, bis der Emporenboden vibrierte. Ich wollte diese Musik selbst spielen können und eignete mir die Toccata im Selbststudium an; naja, nicht konzertreif, aber immerhin konnte ich es spielen und die Kraft der Orgel ausloten, was für mich damals im Teenie Alter doch ein fabelhaftes Gefühl war, so nach dem Motto: „Reger verleiht Flüügel…“
Bei meinem Orgellehrer Jakob Wittwer konnte ich dann einige Werke von Reger seriös erlernen. Während dieser Studienzeit kam ich durch Zufall an ein Notenheft mit den drei Stücken aus Op. 59 „Kyrie, Gloria, Benedictus“, herausgegeben samt Registrieranweisungen von Karl Straube, einem Freund Reger’s, der viele seiner Orgelwerke uraufgeführt hatte. Köbi Wittwer sagte, das sei ein sensationeller Fund, dieses Heft soll ich hoch in Ehren halten und nichts hineinschreiben, sondern Kopien anfertigen, damit das Zeitdokument unversehrt erhalten bliebe. So habe ich es bis heute gehalten. Nun begann ich zu verstehen, wie diese Stücke zu interpretieren waren, hochinteressant und eben doch ziemlich anders, als man sie gewöhnlich hörte, da ja auch die romantischen Orgeln immer rarer wurden. Es ergab sich für mich dann auch noch die Gelegenheit, eine Arbeit über die Interpretation von Reger’s Orgelwerken zu schreiben. Dabei las ich viel und erfuhr allerhand Interessantes über diesen genialen Musiker, ein wahrer Workaholic. Zum ersten Mal las ich da von Sauer- und Walcker-Orgeln, entdeckte die Dispositionen vieler solcher Orgeln und staunte, was es da für gewaltige Instrumente gab und vor allem gegeben hatte. Ich stellte mir vor, wie Reger’s Musik auf solchen romantischen Orgeln geklungen haben musste. Doch authentische Aufnahmen fand man in den 80er Jahren keine. Endlich entdeckte ich einmal eine CD mit vier grossen Choralfantasien. Aber die für diese CD ausgewählten Orgeln entsprachen überhaupt nicht meinen klanglichen Vorstellungen. Es war alles so scharf und und schrill registriert, ohne Grundtönigkeit, so dass ich absolut keine Lust hatte, diese CD jemals fertig anzuhören. Aber es schwebte mir nach wie vor eine Vorstellung im Kopf herum, wie die Stücke auf einer romantischen Orgel wohl klingen würden. Ich musste lange warten, bis endlich Aufnahmen auf den Markt kamen, wo Reger’s gewaltige Werke auf authentischen Orgeln wiedergegeben wurden. Da lernte man diese Stücke von einer ganz anderen Seite kennen und ich merkte, dass die Stücke eben nur auf einer romantischen Orgel stiltypisch klangen, für die sie eigentlich auch geschrieben worden waren.
Eines Tages brachte mir ein Orgelkollege eine CD von der Domorgel aus Riga, einer monumentalen Walcker-Orgel, gespielt von Prof. Martin Sander und da war ich fast sprachlos, wie grossartig Reger’s grosse Choralfantasie „Wachet auf“ zur Geltung kam. Als ich dann ums Jahr 2000 noch das grosse Glück hatte, die dreimanualige, pneumatische Goll-Orgel von 1912 der Kollegiumskirche Schwyz aus ihrem Dornröschenschlaf aufzuwecken und von 2010 – 2012 der Restaurierung samt Rückführung in den Originalzustand durch die Orgelwerkstatt Christian Scheffler zuzuführen, war es für mich ein Traum, der in Erfüllung ging und mir eröffnete sich von da an eine phantastische Klangwelt mit dem Orgeltyp, der in der Schweiz fast vollständig vernichtet worden war, aber dieser grandiosen Musik Max Reger’s gerecht wird. Ich freue mich sehr, dass nun zu seinem 150. Geburtstag, Max Reger, dem Bach des 20. Jahrhunderts, die Ehre zuteil wird, dass schweizweit in einem gross angelegten Orgelzyklus, viele seiner Orgelwerke auf adäquaten Orgeln erklingen.
Ich danke Andreas Schmidt ganz herzlich, dass er diesen Orgelzyklus ins Leben gerufen hat, um Max Reger, diesen grossen, einzigartigen und genialen Komponisten angemessen zu würdigen.
Peter Fröhlich, Schwyz